WUNDERvoll!
Weihnacht - eine Erzählung von Adalbert Stifter
Soweit Aufzeichnungen und Erinnerungen zurückreichen, haben Menschen und Völker ihre heutigen Feste gehabt, an denen sie ihre Seelen in nähere Beziehung zu den Wesen setzten, die sie über sich glaubten, als Herren ihres Schicksals, mit großer, oft unbegrenzter Macht ausgerüstet, mit Gaben versehen, die unbegreiflich sind, und den Willen hegend, auf die Menschen mannigfach einzuwirken, sie mochten nun diese Wesen Götter oder Selige oder Himmlische oder wie immer heißen.
Und ein Schein und ein Schimmer war gewiß zu allen Zeiten für sinnige Gemüter durch Herz und Natur bei diesen Festen ausgegossen, wenn auch nicht alle, ja vielleicht die wenigsten Ursprung, Zweck, Bedeutung und Inhalt der Feste erkannten und wenn sie vielmehr ihre eigenen frommen oder dichterischen oder einbildungsvollen Gedanken mit dem Feste verbanden. Und als das Licht des reineren Glaubens in die Welt gekommen war, haben die Feste nicht aufgehört; sie sind heiliger geworden, und ein Schein und ein Schimmer ist durch Herz und Natur bei ihnen ausgegossen, wenn die Menschen sich mit ihren Ahnungen in das Wesen des Festes versenken und wenn sie kleine Verzierungen und kleine Zutaten je nach den Wallungen und Pulsschlägen ihres Lebens beifügen.
Und ganze Abschnitte des Jahres bezeichnen solche Feste, und wie Lichtsäulen stehen sie auf den Zinnen der Zeit. Das Christentum hat mehrere seelenerhebende Feste. Und ist Pfingsten das "liebliche" Fest und ist Ostern das erhabene, so ist Weihnacht das herzinnige. Es ist das Fest des Kindes, des ewigen, des heiligsten, des allmächtigen, des liebreichsten Kindes, des Königes der Kinder.
In einer Nacht ist dieses Kind auf einer ärmlichen Stelle geboren worden und hat die Gestalt des Menschen angenommen, und diese Nacht wird jetzt von einer ganzen Welt gefeiert und heißt die Weihnacht, die Nacht der Weihe, die von nun ab über die Völker ausgebreitet worden ist.
Und wie in jener Zeit, ehe das Kind geboren worden ist, die Welt auf den Erlöser harrte, der die finstern Übel, die da brüteten, hinwegnehmen sollte, und wie uns gesagt wird, daß die Menschen gerufen haben: "Himmel, tauet ihn herab", was in der römischen Sprache rorate hieß, so bereitet sich die Kirche durch ein monatlanges Fest, das Ankunftsfest, Advent, zu dem Geburtsfeste des Kindes vor, und der Priester der katholischen Kirche hält Meßopfer, die Rorate heißen, und die bis zu dem ersehnten Tage dauern...
Und in welche Zeit des Jahres fällt das Fest! Wenn zu Pfingsten alles grünt und duftet, wenn zu Ostern Feld und Garten und Wald sich zu dem holden Lenze rüstet, so ist die Weihnacht zu der Zeit des kürzesten Tages und der längsten Nacht. Und dennoch, wie ahnungsreich und herzerfüllend ist die Zeit.
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Der Schullehrer, welcher auch Kirchendiener ist, zündet noch jene Kerzen an, welche bis auf den letzten Augenblick hatten warten müssen. Dann geht er in die Sakristei. Auf dem Chore hallen einzelne Töne der Orgel, der Geige, der Klarinette, wie man sich zusammen zu stimmen sucht; denn die Nacht, die Kälte, die Feuchtigkeit hat auf Saiten und Luftsäulen einen Einfluß. Der Pfarrer verläßt sein warmes Stüblein und geht durch den Schnee in die Sakristei. Dort wird er von dem Schullehrer mit den kirchlichen Gewändern bekleidet, und es wird sonst alles geordnet, was noch zu ordnen ist.
Dann eilt der Schullehrer fort. Der Pfarrer wartet noch, bis der Schullehrer auf dem Chore ist, wo er jetzt in seiner andern Würde als Regens chori zu wirken hat. Der Pfarrer wartet, daß er bei seinem Hinaustritte in die Kirche von der richtigen und gesetzmäßigen Musik empfangen werden kann. Endlich tönt das Sakristeiglöcklein, die Ministranten schreiten voran, der Pfarrer geht in die Kirche, und die Musik fällt ein. Es wirken zu ihr so manche zusammen. Der Schullehrer zieht sich zu ihr aus Schülern oder halb erwachsenen Kindern Sänger, und für die Geigen und für die Klarinetten und für die Waldhorne und für die Trompeten und für die Pauken und für den tiefen Gesang finden sich immer Freiwillige in der Gemeinde, die der heiligen Töne walten. Und so eingewurzelt ist die Gewohnheit, daß dieselbe Musikbeschäftigung oft von Vater auf Sohn und Enkel und Urenkel forterbt. So war in einem Orte des böhmischen Waldes seit Menschengedenken die Baßgeige bei einem Hause, so daß es bei diesem Hause noch heutzutage beim Baß-Lorenz heißt. Die Orgel aber bleibt regelmäßig der Thronsitz des Lehrers. Der Pfarrer feiert in seiner Kirche die heilige Handlung, die Andächtigen sitzen in den Stühlen und lesen bei den vielen Lichtlein ihrer Wachsstöcke in ihren Gebetbüchern, und die auf dem Chore haben ihre Freude, wenn sie einen Gesang der Engel ausdrücken können zur Verkündigung der Geburt des Kindes und wenn sie eine Hirtenweise spielen, um die Hirten auf dem Felde anzudeuten.
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Die Menschen verlassen die Kirche, und die Musiker sagen im Auseinandergehen: "Heute war es nicht übel, es hätte in einer Stadt nicht besser sein können."